Wann „evidenzbasiert“ für die Mülltonne ist

Im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie ist wieder viel von „evidenzbasiert“ zu lesen. Rein evidenzbasiert zu handeln kann zwar seine Berechtigung haben. Allerdings nicht unter allen Umständen. Und schon gar nicht inmitten einer Pandemie.

Wann funktioniert der evidenzbasierte Ansatz?

Evidenzbasierte Ansätze funktionieren immer dann sehr gut, wenn wir über reichlich Daten unter ähnlichen Bedingungen verfügen. Über das Paradebeispiel schlechthin dafür schreibe ich auf meinem Sportwetten-Blog: Vorhersagemodelle für Fußball und andere Sportarten.

Beim Sportwetten kannst du zigtausende von Spielen analysieren, die wichtigen Daten herausfiltern, daraus deine Schlüsse ziehen und damit ein evidenzbasiertes Modell basteln, mit dem du die Zukunft vorhersagst. Sofern du dabei korrekt vorgehst, kommst du zu robusten Prognosen, die es dir ermöglichen, profitabel zu handeln.

Anders gesagt: Du blickst in die Vergangenheit, um Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Problem #1: Evidenzbasierte Ansätze schauen rückwärts

Evidenzbasierte Ansätze schauen also notwendigerweise in die Vergangenheit, weil etwas so oder so ähnlich schon einmal passiert sein muss, damit man von Evidenz reden kann. Wo keine Vergangenheit existiert, kann es keine Beweislage geben.

Das ist insbesondere dann ein Problem, wenn keine Zeit bleibt – wie das zum Beispiel bei einer Pandemie der Fall ist. Da sich eine Pandemie exponentiell und damit sehr schnell ausbreitet, bleibt schlicht und ergreifend nicht die Zeit, genug Beweise abzuwarten, bevor eine Entscheidung gefällt wird. Weil die Konsequenzen, die uns aus nicht rechtzeitigem Handeln erwachsen, zu katastrophal sein können.

Problem #2: Evidenzbasierte Ansätze nehmen an, dass die gesammelten Beweise brauchbar sind

Das ist nicht notwendigerweise der Fall, und nicht immer ist dieser Umstand offensichtlich. Ein gutes Beispiel ist hier in meinen Augen das Thema Ernährung: Nach tausenden von Studien sind sich (vermeintliche) Ernährungsexperten noch immer nicht einig, ob Kaffee schädlich ist oder nicht; gleichermaßen herrscht trotz aller Evidenz und jahrzehntelanger Forschung noch immer reichlich Streit darüber, worin eine gesunde Ernährung eigentlich besteht.

Der Verdacht, der hier für mich nahe liegt: Was für uns gesund ist und was nicht, hängt sehr stark mit unserer Genetik und unseren Lebensumständen zusammen. Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist unendlich komplex, entsprechend wird man aus Ernährungsstudien nur sehr bedingt schlau werden. Weil die tatsächliche Beweislage viel fragmentierter ist, als sie auf den ersten Blick erscheint.

Es wird also viel vermeintliche Evidenz in Form von unzähligen Studien produziert. Doch falls es de facto vor allem auf deine Gene ankommt, sind die so gesammelten Beweise schlicht nicht von Belang für dich, weil nur wenige Leute genetisch so ähnlich wie du aufgestellt sind.

Um auch noch ein Sportwettenbeispiel zu bringen: Wenn ich eine Studie zum Heimvorteil im Fußball durchführe, kann ich nicht einfach nur 100 Spiele von einer Handvoll von Clubs nehmen, und ausschließlich diese Spiele anschauen – jedenfalls nicht, wenn ich zu sinnvollen Vorhersagen kommen möchte. Genau solch unsinniges Vorgehen ist aber gerade bei Ernährungsstudien gang und gäbe.

Problem #3: Abwesenheit von Beweisen ist kein Beweis von Abwesenheit

Ein vor allem derzeit beliebter Denkfehler ist, die Abwesenheit von Beweisen gleichzusetzen mit dem Beweis von Abwesenheit . Nehmen wir beispielsweise diese verschiedenen schicksalhaften Tweets , die alle die WHO als Urheber haben.

Das Schöne an dieser Pandemie ist, dass es nicht lange dauert, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Mittlerweile ist völlig offensichtlich, dass SARS-CoV-2 von Mensch zu Mensch übertragbar ist, und dass Masken dabei helfen, die Ansteckungsrate einzudämmen. Selbst wenn es also für etwas keine Beweise gibt, kann es eben dennoch so sein.

Nichtsdestoweniger wird die Formulierung Es gibt keine Hinweise darauf… insbesondere in den Medien gerne so verwendet, als habe sich jede Diskussion über das Thema erledigt. Diese WHO-Pandemiebeispiele zeigen, dass das nicht immer so clever ist.

Wie du auch ohne Beweise Entscheidungen fällen kannst: Risikoasymmetrie

Manchmal muss man also auch ohne hinreichende Beweislage Entscheidungen fällen. Das ist nicht so schwer: Dazu muss man nur Risiko und möglichen Nutzen abwägen. Häufig drängt sich dann die Entscheidung nahezu von selbst auf. Nehmen wir die leidige Maskendiskussion in jüngster Zeit.

Sagen wir, dass wir nicht genau wissen können, ob einfache Schutzmasken ein wirksames Mittel in der Pandemiebekämpfung sind. In dem Fall können wir eine einfache Entscheidungsmatrix der möglichen Konsequenzen anfertigen:

Masken getragen Masken nicht getragen
Masken funktionierenKatastrophe abgewendet/abgemildertunnötige Tote, unnötige Wirtschaftsschäden
Masken funktionieren nichtein wenig zu viel Müll erzeugtmarginale Kosten gespart

Die Entscheidung sollte aus reinen Selbsterhaltsgründen völlig logisch sein. Wenn man (wie bei einer Pandemie) nicht abwarten kann, welche Beweislage sich abzeichnet, vergleicht man einfach die schlimmsten möglichen Szenarien für alle Handlungsmöglichkeiten. Und wählt dann den glimpflicheren Verlauf.

Wann und warum ist evidenzbasiertes Handeln sinnvoll?

Warum sollte man also überhaupt evidenzbasiert handeln? Die Idee dahinter ist letztlich, nur Dinge zu unternehmen, die auch funktionieren, und zu wissen, welche Kosten damit verknüpft sind. Wenn genug Zeit dafür vorhanden ist, ist das der korrekte Ansatz, weil möglicherweise teure Fehler vermieden werden können. Wenn ich ohne ein Wettmodell im Fußball drauflos wette, wird das finanziell auf Dauer negative Konsequenzen haben.

Da ich beim Wetten keinen Zeitdruck habe, sollte ich dort evidenzbasiert handeln.

Der evidenzbasierte Ansatz gerät in dem Moment an seine Grenzen, in dem die Konsequenzen des Nichthandelns schlimmer sind als die möglichen Kosten falschen Handelns. Wenn du auf einem Gleis stehst und ein Güterzug auf dich zurast, ist es wichtiger, dass du dich überhaupt in Bewegung setzt, als lange über die optimale Richtung nachzudenken.

Gleichermaßen ist es bei einer Pandemie weitaus bedeutsamer, schnell zu handeln und dabei schlimmstenfalls zu übertreiben, als zu 100% korrekt zu handeln. Nachbessern ist jederzeit noch möglich, vergeudete Zeit dagegen kostet unnötig Menschen das Leben.

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