Kernthesen #1: Der Untergang der Blauen Kirche

2016 war ein Jahr der Schockwellen: Brexit und die Wahl von Trump überraschten nicht nur Politiker und Meinungsforscher, sondern auch die Politikwettmärkte. Wie konnte das passieren? Und geht es so weiter? Der Untergang der Blauen Kirche liefert wertvolle Antworten auf diese Fragen.

Was ist die Blaue Kirche?

Die Blaue Kirche ist im Kern die soziale Kontrollstruktur, die im Westen insbesondere in der Nachkriegszeit als natürliche Folge des Aufkommens der Massenmedien entstanden ist. Zum ersten mal gehört habe ich von der Blauen Kirche in einem exzellenten Medium-Blogpost von Jordan Hall (wo er von Blue Church spricht).

Asymmetrische Kommunikation: Wenige senden an Viele

Wenige senden an Viele

Das wesentliche Merkmal der Blauen Kirche ist die asymmetrische Kommunikation: Nur einigen Wenigen ist es vorbehalten, Inhalte zu produzieren und an eine Vielzahl von Empfängern auszusenden. Dies beschreibt beispielsweise, wie Fernsehen, Zeitungen oder Radio funktionieren (die klassischen Massenmedien eben), aber unter anderem auch, wie eine Universität oder Schule aufgebaut ist. Auch in Klassen- und Vorleseräumen dominiert ein Sender, dem sich viele Empfänger unterordnen, ähnlich sieht das bei Büchern im Allgemeinen und einer Enzyklopädie im Besonderen aus.

Ein Dialog zwischen Sendern und Empfängern findet (wenn überhaupt) nur sehr begrenzt statt – in Form von Leserbriefen und gelegentlichen Wortmeldungen im Vorlesesaal etwa. Dies bedingt auch, dass Kommunikation im Wesentlichen von oben nach unten fließt, und die Deutungshoheit beim Sender liegt. Dem Empfänger steht zwar frei, was er mit den erhaltenen Informationen anfängt, doch die Möglichkeit, effektiv an der gesamtgesellschaftliche Diskussion teilzunehmen, ist notwendigerweise sehr stark begrenzt.

Eliten

Aus der asymmetrischen Sender/Empfängerlogik erwächst zudem eine eng mit den Sendern verflochtene Elite, die unter anderem aus Politikern, gehobenen Bürokraten, Experten (Wissenschaftler und Professoren zum Beispiel) und der Managerklasse besteht. Diese Elite kann man grob als das Establishment begreifen, das im Zusammenspiel mit den Massenmedien den wesentlichen Kern der Blauen Kirche ausmacht.

Die erwünschte Meinung: Was man sagen darf, und was nicht

Ein weiteres wichtiges Merkmal der Blauen Kirche ist die Idee der erwünschten Meinung[1]: Es gibt eine gewisse Spannbreite von Meinungen, Werten und Vorstellungen, die die Blaue Kirche akzeptiert. Bewegt man sich außerhalb dieser Spannbreite, droht die gesellschaftliche Ächtung. Diese Spannbreiten können im Lauf der Jahrzehnte deutlichen Verschiebungen unterliegen, wie die Themen Rassentrennung, globale Erwärmung oder gleichgeschlechtliche Ehe deutlich veranschaulichen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Idee von Political Correctness enorm bedeutsam; diese kann man als enger gefasste Spielart der erwünschten Meinung begreifen, als Zuspitzung gewissermaßen.

Der Nutzen einer geteilten erwünschten Meinung besteht darin, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt erzeugt wird – und dass durch das Teilen der erwünschten Meinung Zugehörigkeit signalisiert werden kann. Der offensichtliche Nachteil daran ist das Entstehen der mittlerweile viel zitierten Filterblase, weil gegenläufige Meinungen tendenziell unterdrückt werden (durch Selbstzensur beispielsweise).

Gesellschaftlicher Wert und Sinn der Blauen Kirche

Die Blaue Kirche ist letztlich nur die Art und Weise, auf die demokratisch-westlich geprägte Gesellschaften in der Nachkriegszeit Komplexität gehandhabt haben. Wenn sich eine Gruppe erfolgreich organisieren will, benötigt sie gemeinsame Werte und eine gewisse Übereinkunft darüber, wie neue Ereignisse zu bewerten sind und wie auf sie zu reagieren ist. Angesichts explodierender Bevölkerungszahlen und der rapide fortschreitenden technologischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert[2] war die Blaue Kirche die Antwort auf die Frage, wie die daraus entstehenden komplexen Probleme erfolgreich vereinfacht und gehandhabt werden konnten, ohne in Chaos und Anarchie zu versinken.

Entwicklung der Weltbevölkerung

Entwicklung der Weltbevölkerung bis 2000

Wesentlich an all dem ist, dass die Blaue Kirche einen gesamtgesellschaftlichen Prozess des Verstehens darstellt – eine kollektive Form der Sinnschöpfung[3]. Diese Sinnschöpfung sorgt für eine in sich stimmige Gesellschaft und sichert damit ihre Handlungsfähigkeit.

Der Untergang der Blauen Kirche

Meine von Jordan Hall übernommene These ist, dass wir derzeit erleben, wie die Blaue Kirche zusammenbricht. Das hat vor allen Dingen technologische Gründe; ähnlich wie der Buchdruck gewaltige gesellschaftliche Änderungen nach sich zog, entfalten sich jetzt deutlich spürbar die Konsequenzen des Internets.

Kommunikation heute: Alle senden an alle

Dezentrale Kommunikationsstruktur: Alle senden an alle

Die mit Abstand wichtigste Veränderung betrifft das Wesen der Kommunikation. Das Modell Wenige senden an Viele existiert zwar noch, aber es verliert täglich an Boden. Ersetzt wird es mit dem Internet durch eine Umgebung, in der prinzipiell alle mit allen reden können[4]. Dieser Punkt ist nicht trivial, sondern hat auf allen Ebenen dramatische Konsequenzen, deren Tragweite erst jetzt so richtig klar zu werden beginnt.

Die Todesspirale der klassischen Medien

Die klassische Medienlandschaft hat massive Probleme, und ich behaupte, dass sie gerade stirbt. All das ist einen eigenen Blogpost wert, weshalb ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen will. In jedem Fall ist der finanzielle Druck und die Konkurrenz unübersehbar, die das Internet geschaffen hat (Wikileaks!). In etlichen Ländern befinden sich Medien in einer massiven Vertrauenskrise, und ein starker Verlust an Deutungshoheit ist unübersehbar.

Vertrauen der Bevölkerung verschiedener Länder in Zeitungen und Magazine. Quelle: Ipsos
Vertrauen der Bevölkerung verschiedener Länder in Fernsehen und Radio. Quelle: Ipsos

Früher konnten Medien das Narrativ weitgehend unbehelligt formen, durch das Internet wird diese Fähigkeit gleich auf mehreren Ebenen untergraben.

Die ungewisse Zukunft der Universitäten

Auch Universitäten drohen durch das Internet überflüssig zu werden. Es gibt keinen prinzipiellen Grund mehr für ihre Existenz als Ort des Lernens; im Zeitalter von Youtube können Vorlesungen genauso gut als Video ins Netz gestellt werden. Das hat eine weitere dramatische Konsequenz: Wenn geografische Beschränkungen keine Rolle mehr spielen, warum würde ein Student sich auf die lokal verfügbaren Professoren beschränken? Dies wiederum wirft die Frage auf, warum man als Studierender überhaupt noch einem Professor zuhören sollte, der nicht zur absoluten Spitze seines Feldes zählt.

Auf Professorenseite dürfte dies zu extremen winner takes all-Effekten führen, mit ein paar Superstars auf der Gewinnerseite, und einem breiten Feld von Verlierern.

Insbesondere in der angelsächsischen Sphäre ist darüber hinaus seit ungefähr 2006 eine gewaltige Studentenschuldenblase entstanden, die nur darauf wartet, in irgendeiner Form zu platzen. Die explodierten Bildungskosten für den Besuch von Eliteuniversitäten bieten bereits jetzt einen sehr hohen Anreiz, sie einfach zu meiden. Gleichzeitig war es noch nie so leicht und billig, sich Wissen und Qualifikationen im Internet anzueignen (Khan Academy und Coursera sind frühe Beispiele dafür).

Der wesentliche Vorteil, den Universitäten als Institutionen noch haben, ist Zertifizierung. Indes ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Vorteil nicht mehr besteht. Über kurz oder lang wird der klassische Harvard-Deal „Geld gegen Jobgarantie“ nicht mehr funktionieren; tatsächlich gerät er bereits jetzt an seine Grenzen.

Wikipedia weist den Weg

Ein frühes Beispiel für die Verdrängung des Alten durch das Neue ist Wikipedia. Klassische Enzyklopädien mit ihrer asymmetrischen Sendestruktur spielen längst keine nennenswerte Rolle mehr, schon weil sie mit der ständigen Aktualisierung und der schieren Menge an Wissen nicht mithalten können. Wikipedia ist auch ein gutes frühes Beispiel dafür, wie ein soziales Kollektiv mit seiner gesammelten Gruppenexpertise das klassische Expertentum der Blauen Kirche verdrängt. Den gleichen Prozess erwarte ich auch für die anderen Institutionen der Blauen Kirche, spezifisch den Medien und Universitäten.

Die Konsequenzen des Untergangs der Blauen Kirche

Um die schlimmsten Szenarien zu vermeiden, wird es im Kern darum gehen, kollektiv einen neuen Prozess der Sinnschöpfung zu finden, der den modernen Zeiten angemessen ist. Die Mechanismen und Institutionen der Blauen Kirche können dies nicht länger gewährleisten, doch gleichzeitig ist das Neue noch längst nicht weit genug entwickelt, um den unvermeidlichen Verlust der Blauen Kirche abzufedern. Blockchainprojekte sind in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel dafür: Vielversprechend, aber sie stecken alle noch in den Kinderschuhen.

Was uns aus dem Untergang der Blauen Kirche erwachsen wird, ist schwer absehbar, doch gewisse Konsequenzen sind bereits jetzt spürbar, insbesondere im politischen Bereich. Der Aufstieg der populistischen Bewegungen in vielen Ländern, Brexit und die Wahl Trumps sehe ich alle als frühe Vorboten für die gesellschaftlichen Konflikte, die im Westen auf uns zukommen. In dem Maß, in dem die Blaue Kirche an Boden verliert, erwarte ich in den nächsten Jahren weiteren Auftrieb für Bewegungen, die außerhalb davon stehen[5].

Gleichzeitig erwarte ich auch, dass dieser Auftrieb von sämtlichen Institutionen der Blauen Kirche zwar mit Sorge betrachtet, aber dennoch gewaltig unterschätzt werden wird. Dass beispielsweise Trumps Wiederwahl 2020 deutlich wahrscheinlicher ist, als (auch vom Wettmarkt) erwartet wird, ist dabei ein wettrelevanter Aspekt, den ich offensichtlich finde.

Warum eigentlich „Blaue Kirche?

Der Begriff der Blauen Kirche wurde ursprünglich im berüchtigten Subreddit r/the_donald vom Nutzer notjaffo geprägt. Der ganze Post ist sehr lesenswert, aber der nützlichste Aspekt ist das Gegenüberstellen der Blauen Kirche (Establishment/Demokraten) mit der rebellierenden Roten Religion (Trump). Die Farbgebung hat seine Wurzeln in den traditionellen Farben von Demokraten und Republikanern. Sie passt zwar in dieser Form nicht in die europäische politische Landschaft, aber dennoch ist das der Blauen Kirche zugrunde liegende Konzept auch in der EU sehr zutreffend.

Ferner ist der Begriff Blaue Kirche auch angemessen, weil der letzte Kulturkampf im Westen im Wesentlichen von der progressiven Seite gewonnen wurde, wie man symbolisch an der nun weithin akzeptierten gleichgeschlechtlichen Ehe gut erkennen kann. In den 1950ern dagegen wäre es angemessen gewesen, von einer Roten Kirche zu sprechen. Deren Struktur war identisch mit der Blauen Kirche, ihre Werte waren es nicht.


Fußnoten:

[1] Jordan Hall nennt das im Englischen good opinion. Das Konzept ist auch bekannt als Overton-Fenster.

[2] Im Jahr 1871 beispielsweise kam eine Volkszählung in Deutschland auf ca. 41 Millionen Einwohner, bei einer damals noch deutlich größeren Fläche. In den USA lebten 1870 um die 30 Millionen Menschen. Ab 1900 fanden die ersten Flugversuche der Brüder Wright statt, und nur knapp 70 Jahre später betraten die ersten Menschen den Mond.

[3] Jordan Hall schreibt von collective sensemaking.

[4] Offensichtlich bestehen weiterhin „Wenige zu Vielen“-Asymmetrien, allerdings hat jetzt (im Gegensatz zu früher) prinzipiell jeder die Möglichkeit, als Sender aufzutreten – mit einem Blog, einem Podcast oder auf Youtube beispielsweise. Die Reichweite einiger Youtuber und Podcasts ist mittlerweile weit größer, als es die der meisten Fernsehsender je war.

[5] Damit meine ich längst nicht nur rechtspopulistische Bewegungen, sondern auch Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, oder auch Politiker neuen Schlags wie Alexandria Ocasio-Cortez.

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